l’ultima luna

Ich spüre das Seil, an dem unsere Gondel hängt. Und du mein Zittern. Ich frag dich, ob du nicht auch denkst, dass… und du sagst, ach was. Längst hast du es dir abgewöhnt, mich ernst zu nehmen. Wir schweben auf 3000 Metern. Das Hochgebirge gibt mir das Gefühl, klein und unbedeutend zu sein. Es tut das auf eine Weise, die so einschüchternd ist wie angenehm. Plötzlich verschiebt sich etwas, in deinem Gesicht, als hätte jemand, wie in einem Text-doc. die Schrift von regular auf bold, und dann noch, wie zum Spaß, auf kursiv gestellt. Du brüllst: „Ein Steinadler!“ Meine Augen schauen dir ins Gesicht, sie sehen, wie du an den breiten Flügeln des Greifers klebst, wie vereinnahmt du bist von diesem Vogel, wie fröhlich es dich macht, ihn so zu sehen, aus dieser Nähe, du folgst ihm, ziehst mit, korrigierst den Kurs, bis ihr synchron seid, im Gleichklang, getragen von Thermik, der Adler und du, und ich, ich schau dich an, schau dir zu, wie du da stehst, auf dem Gondelboden, mit deinem Gesicht, und fliegst, ich sehe es, du fliegst! Der einzige auf dem Planeten, der das sieht, bist du, denke ich, ein Glück, was für ein unwahrscheinliches Glück das ist. Wir stehen nebeneinander, beide im Bann des eigenen Blicks. Du forderst mich auf, es dir gleich zu tun. Meine Augen sollen weg, forderst du, weg von dir, rüber zu ihm. Du willst deinen Moment zu einem multiplen machen. Willst mich dabei haben. Jetzt. Doch ich möchte nicht. Möchte bleiben, meinen Moment für mich behalten, aber das Unnachgiebige gehört zu dir, und du gewinnst und ich verlier. Kursiv schauen wir in den Himmel. 
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 Es war unser erster Tag. Es war ein März in einem Lebensmittelgeschäft in einer Straße, die zu klein ist, um Straße genannt zu werden. Kollegen sollten wir sein. Du warst die Schlaue, die Schöne, die Gutgelaunte, du warst irgendwie viel zu viel. Du hattest Auslandssemester, Traveler-Stories und poolblaue Augen. Ich dachte schon damals, dass die Farbe Blau nur deshalb eine warme Farbe ist, weil sie die einzig wirklich vertretbare Pulloverfarbe ist. Du hattest deinen Wollpulli an und warst auf eine Weise schön, die nicht nur mir unangenehm sein konnte. Neben dir zu sitzen hieß neben dem Lebensentwurf zu sitzen, den man selbst nicht hinbekommen hat. In mir war kein Begehren, vielmehr ein Gefühl der zweiten Reihe. Du warst der Mensch, der ich gerne gewesen wär. 
Unter uns die Bodenlosigkeit, über uns das Jenseits. Du singst in die Gondel und tanzt die letzten Akkureste des iPhones leer. Als es stumm wird, neigst du den Kopf und nuschelst erst etwas, das ich nicht versteh, und dann, diesmal laut und deutlich, sagst du, dass du Lucio Dalla magst. Ich denke daran, was das heißt, jemanden zu mögen. Und frage dich, ob wir Freunde wären, wenn wir nicht… und du sagst, es beginnt gleich zu regnen. Ich denke, dass du, entgegen meiner ursprünglichen Vermutung, schon damals, bei unserem ersten Treffen, kaputt warst, auf mir ebenbürtige Weise kaputt, und ich frage dich, ob du wirklich nicht in Bologna leben willst. Nein, sagst du, wie du da stehst auf dem Gondelboden, bei den Steinadlern! Und ich denke an Cilento, an Procida und an Francesco, den Obstverkäufer. An den bitteren, roten Salat und wie gesund der wohl war. Ich habe mich, das scheint mir immer klarer, in jenen Tagen und Wochen, als wir uns kennenlernten, ohne es selbst zu merken, in einen Clown verliebt. In diesen auf Eleganz scheissenden, breitbeinigen Gang. In dieses stets vorwärtsgewandte Stolpern und diese dir typische, wie ich schließlich bemerkte, tollpatschige Traurigkeit, die du immer verstecken wolltest, aber unmöglich verstecken konntest. In das hab ich mich verliebt. Nicht in die poolblauen Augen; in die Schlucht, die unter ihnen liegt. 
Bevor du da warst, in meinem Leben, war ich ein Stein. Und ich bezweifle, ob du weißt, wie du es geschafft hast, den Stein durchlässig zu machen, ihn aufzuweichen, mit allen Konsequenzen, Tränen, lächerlichen Tränen, bei denen nicht klar war, warum, weil ja nichts geschehen war, außer einem Albtraum, oder einer Folge Dawson’s Creek. Du hast mich ausgelacht und ich mochte das. Wir hatten Sex und sogar das mochte ich mitunter. Ich stehe auf dem Gondelboden, neben dir, und denke daran, dass du mal ein Spermium warst und ich eine Eizelle. Dass du so klein warst wie mein Fingernagel und wie lange das schon her ist und warum erzählst du so wenig, wie es war, das Leben? Damals, im Mutterleib, am Bauernhof und später im Ballet. Ich frage mich, ob es ebenso schwer war mit Ballet aufzuhören wie mit Fußball. Und denke daran, zu sterben. Und wie unpassend und pathetisch das jetzt klingt. Unsere Körper werden verfallen, das sicher, sie werden verfaulen und ich sehe Hologramme der dunkelbraunen Altersflecken auf deiner und auf meiner Hand.
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Die Welt von gestern und die von morgen und wir in der Mittelstation. Lass uns hier bleiben, sagst du, die Hand über die harte Sitzbank streichend. Was man aus so einer Gondel alles machen könnt, hier eine Kiste mit Erde, da pflanzen wir Radieschen, da ein paar Bücher, sagen wir so fünf pro Nase, und da eine Herdplatte. Ja! Und Platten! Platten brauchen wir, sagst du, und wenn dann noch Platz ist, eine Sauna. Ja, lass uns das machen, Nacktsein!, sagst du. Ich denke daran, dass wir uns lieber ein Moped kaufen sollten. Weil Mopedfahren super ist. Und weil ich, um die Gel-Frisur nicht zu beleidigen, das Mopedfahren immer vermieden hatte. Ich denke, dass sich nicht nur meine Haare verändert haben. Und es Zeit wird, die Kappe runter zu geben. Dass weder du noch ich jemals Crossfit machen werden und dass ich dich nicht nur deshalb liebe.
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Es war unsere erste Nacht. Deine halbhohen Lederschuhe, schwarz, Größe 41, Marke Blundstone, standen im Vorzimmer. Vom Bett aus schautest du den farblosen Baum vor meinem Fenster an, auf eine Art, die mir fremd war. Deine Neugier und dein Körper waren Rätsel. Wie dein Knie neben meinem lag. So rastlos, wackelig. Damals wusste ich noch nicht, wie es sein wird, die Distanz zu verlieren. Beinah jeden Tag im Neben- und Miteinander zu verbringen. Ich muss denken an ein „Guten Morgen“ und daran, wie viel lieber ich doch alleine bin in der Früh. An den Steinboden Neapels, den ewigen Pizzarand und das Meer. Und an alle Meere. An Reisen, in denen wir auf Bäumen singen und bestimmt nichts buchen. An den Flughafen muss ich denken in Yangon und an alle Flughäfen und Bahnhöfe und ich frage, nicht ohne Dankbarkeit, warum ich hier immer so viel mehr zuhause bin.
Woodstock ist lange vorbei. Die Doku, die wir damals, im Hochbett, gesehen und dann doch nicht gesehen haben. Stattdessen uns. Haben es probiert, uns anzusehen. Wer bist du?, hast du nie gefragt und immer nur angenommen, mich angenommen, wie ich war, sagen wir meistens, manchmal auch nicht, da fehlt mir dann vielleicht die Ehrlichkeit, oder dir, ich weiß es nicht. Ich denke an die kaputte Klospülung in der Via Duomo und an die Tage in den Dolomiten, an meine Panik vor den Kühen und wie wenig Angst du immer hattest. Und wie viel Angst du immer hast. Aber, weißt du noch, das Stiegenhaus, deine Hand in meiner Hose oder später der furzende Esel und der bellende Hund, in der Dämmerung, bei den Schafen? Ich denke an Luigi, den Mechaniker, und wie es dem gelben Panda jetzt wohl geht. Und dann, natürlich, an das Knabberzeug in der Strandbude, das eigentlich etwas anderes hätte sein sollen und was es wohl aussagt über uns, was dieser Teller mit Oliven, Grissinis und Salzstangen, was dieser Snackteller, der so ziemlich das Gegenteil dessen war, was wir wollten, wir aber gleichzeitig zu unkompliziert veranlagt waren und sind, um so etwas zu ändern. Oder das Eis, die Krönung, das ich nur bestellt habe, um das Ganze irgendwie zu retten. Nichts als Bauchweh ist mir davon geblieben. Bauchweh und du, denke ich, auf dem Gondelboden.
Die ersten Tropfen fallen. Ein leises Trommeln kommt vom Dach. Ist das nicht schön?, fragst du. Die Frage verlangt nach nichts. Ich weiß nicht, wie alt ich bin, wie alt du bist und wie teuer die Suppe auf der Hütte gestern war. Unsere Gondel fährt. Solange sie sich bewegt, bewegen auch wir uns. Auf und ab. Dem letzten Mond entgegen.
 
In: EBEN Magazine